Sinn und Sinne

Erinnerungskuss

Nur eben um die Ecke

Letzten Montag bin ich der Verführung erlegen. Ich bin nur kurz zum Supermarkt um die Ecke, um Butter, Käse usw. einzukaufen. Und da wupps: Leichtsinn! Zum Fasching hübsch hergerichtet, schieben sie sich in Griffhöhe in mein Blickfeld. 

Das stand sicher nicht auf dem Plan, jedenfalls nicht auf meinem! Aber Emotion wirkt! Süße Erinnerung im Neunerpack: 

Super dick! Und ich kann nicht widerstehen! 

Sei’s drum, lass mal wieder probieren! Die 1,99 Euro werden in einem Anfall von Übermut jetzt riskiert!

Vorfreude

Voll Vorfreude balanciere ich die Schachtel mit den Schokoküssen heim! Lange her, dass ich die Kameraden zuletzt geschnuckelt habe! Jedenfalls nicht einen ganzen Karton für mich allein. – Ein Einzelstück hätte auch erst mal genügt – so wie früher die Schweizer Variante, die wir beim Migros bekommen haben.  Die war einzeln verpackt, vor sehr, sehr langer Zeit. Damals war es auch noch üblich von “Negerküssen” zu sprechen, da war  noch vieles „Neger“ – nur weil es eine braunschwarze Farbe hatte.  Sprachgebrauch und gesellschaftliche Interpretationen ändern sich (müssen sie auch!), deshalb habe ich mich an die „Schoko“-Variante“ ohne weiteres gewöhnt.

So und da steht meine Beute! 

Den richtigen Rahmen schaffen

Ein bisschen zelebrieren muss ich dieses „Retro-Erlebnis“. Also wird ein ebensolcher Kaffee gekocht, frisch handgemahlen und gefiltert.

Zeit, den Erinnerungen ein wenig nachzuhängen. Als wir Kinder waren, sind wir zwanzig Minuten bis zu dem Bäcker gelaufen, der solche Schokoriesen in ein aufgeschnittenes Brötchen gematscht hat. Für diese „Köstlichkeit“ haben wir dann unsere Taschengeldpfennige zusammengekratzt und es wie eine süße Belohnung weggefuttert.

Es gab sogar schon damals eine absolut seltene Variante, den Orangenkuss! Für kleine Gourmets (oder Snobs?).

Wer ist hier die Beute?

Das damit verbundene Gefühl ist immer noch nahe und kann durch so gekonnte, harmlos wirkende Verkaufsstrategien in unbedachten, unschuldigen Momenten wieder geweckt werden. 

Wir könnten es jetzt bei der Erinnerung belassen. 

Aber nein, grapsch, zack, zahlen, Beute wird nach Hause getragen. 

Meins! Treffer! 

Triumph und Niederlage sind eins!

An der Quelle – Mitten im Paradies?

Als studentische Aushilfe bei einem Arbeitnehmerüberlassungsunternehmen wurde ich mal zum Dienst beim Süßwarenhersteller in der Nachbarstadt eingeteilt. Was für ein Job! Na, Hauptsache Geld kommt rein, wenn auch nicht gerade üppig. Für drei Wochen stand ich mit den Dauer- und Studentenkolleginnen (Männer haben damals nur Aufsicht geführt und Maschinen eingestellt.) am Band. Waffelbäckerei, Verpackungsfließbänder – schon damals nicht nur Arbeit im Materialnachschub, sondern auch Qualitätskontrolle.

Wir hätten sogar von dem Ausschuss so viel essen dürfen, wie wir können. Damit hörst du aber sehr schnell auf, wenn du den ganzen Tag in Schoko-Vanille-Zucker-Waffelduft stehst und die Maschine oder besser das Laufband immer ein wenig schneller ist, als du ohne Stress bedienen könntest! Und abends durften wir dann in Gummistiefeln auf die Bänder klettern und diese von der eiweißklebrigen Masse mit Schlauch und Schrubber reinigen.

Interessant waren auch Kolleginnen, die ausschließlich derart gering geschätzte Jobs ausführen konnten. Ihre Einstellung zu ihrer Arbeit hat mich von allerlei Naivität schon vor dem Studium befreit. Es gab unter anderem mehr oder weniger absichtlich herbeigeführte Unfälle, aber auch Verletzungen, weil die Maschinen noch nicht über heute übliche Eingriffssicherungen verfügten. Personal gab es genug, es wurde immer schnell ersetzt. Dort habe ich auch meine erste Auditerfahrung (plötzlich bekamen alle Häubchen, Mundschutz und Handschuhe) als Vorbereitung einer Übernahme durch einen größeren Süßwarenanbieter gemacht.

Man glaubt es nicht, aber trotz der Arbeit in der Schoko-Eiweiß-Zucker-Waffel-Welt, haben wir reichlich Umsatz im Werksverkauf generiert. Kartons mit Hundert von den „Mann-sind-die-dick“ oder auch verschiedenen anderen Waffelspezialitäten wanderten in den Kofferraum meines Ferrari-roten Kadetts. Und die Nachfrage war echt groß!

Erinnerung weckt Erwartung

Das waren wohl die Erinnerungen, die in diesen kurzen Momenten im Laden aus den Untiefen  des Unbewussten aufstiegen, nachdem ich bestimmt schon unzählige Male völlig unbeeindruckt an diesen Produkten vorbeigelaufen bin.

Mein Kaffee, verfeinert mit manuell aufgeschäumter Vanillesahne, ist durch, duftet lecker. 

Jetzt! Ich schlage meine Zähne in den glänzenden Riesenkuss! 
Breche die knackig-voll-süße, dünne Schokoglasur und treffe auf die duftige, ebenfalls süße Eiweißwolke.

Umpf, zu viel auf einmal, hebe den nur Kopf ab. 
Der Schaum wird im Mund mehr und mehr, aber sonst?
Schlecke den Rest aus, in drei Anläufen, lasse den Waffelboden knacken.

Bis auf die Süße der Schokolade eine geschmacklose Eiweiß-Aufschäumung zum Runterschlucken.
Da hilft nur rasch einen Schluck der Handarbeitskaffeespezialität hinterher zu schicken.
Die ist glücklicherweise echt gut.

Wieder einmal: Vorfreude ist die schönste Freude!

Och, bin ich enttäuscht!

Was hatte ich denn erwartet?

Weil ich keine unverdorbenen Lebensmittel wegwerfe, gibt es in den nächsten Tagen acht weitere Versuche, nein sieben, denn einer steht noch hier und macht eine gute Figur.

Wer hat sich so verändert?
Der Schokokuss nicht nur im Namen?
Meine Geschmacksempfindung?
Oder täuscht gar die süße Erinnerung?

Was lerne ich daraus?

Erinnerungen kann man nicht zurückbekommen und wieder erleben.
Es ist immer anders.
Und es reicht, unsere Erinnerungen als Souvenirs unserer Erfahrungen zu pflegen, egal, wie wahr und echt sie sind.
Solange sie uns ein gutes Gefühl geben, sind sie für uns wertvoll.

Sozusagen Erinnerungsküsse.

Und dafür braucht es keinen gegenständlichen Besitz – oder Konsum oder alte Zustände.
Doch in schwachen Momenten glauben oder hoffen wir leider oft genau das – 
nicht zuletzt dank geschickter Verkaufspsychologie!

Bis zum nächsten Mal!

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