Schätze – Die blaue Schale
Flohmarkt in der Siedlung
Am Sonntag haben wir Nachbarschaftsflohmarkt. Der Quartiersmanager unseres Stadtteilzentrums hat zusammen mit engagierten BürgerInnen eingeladen. Die Gründung unserer „Siedlung“ vor 101 Jahren geht auf den ersten Siedler Anselm Caliz, zurück und soll dieses Jahr gefeiert werden.
Anselm Caliz (1882-1964) auf Stadt-Kitzingen.de
Weil mir die Idee gut gefällt, als „Zugereiste“ auf diese Art und Weise mit den Nachbarn mal ganz ungezwungen ins Gespräch zu kommen, habe ich mich angemeldet. In der Toreinfahrt des „halben“ Siedlungshauses, das auch das Geburts- und Elternhaus meines Mannes ist, werden wir uns und unsere „Schätze“ aufstellen. Es gibt einen Lageplan, auf dem die teilnehmenden Grundstücke markiert sind. Zusätzlich werden wir gebeten, jeweils einen „Gießer“ als Wegweiser anzubringen.
Macht das Wetter mit?
Zum Zeitpunkt der Anmeldung startet der Frühling gerade durch. Wir haben mehrere Tage hintereinander so um die 20 °C. Das kann doch nett werden!
Denkste Puppe! Aufwachen. Es ist noch nicht vorbei. Am Freitag erwischt uns eine Kaltfront. Und die bringt tatsächlich Schneeregen. Klitschig-naß! Au weia! Trotzdem raffe ich mich auf. Die Kontrolle der Bestände und das „Ausmisten“ ist schon lange mal fällig. Und wenn ich wetterbedingt sowieso nicht an die frische Luft mag – die Gelegenheit ist zu nutzen.
Klamottenkisten
Zwei Kisten mit „eingelaufenen“ Kleidungsstücken und Gardinen stehen schon eine Weile herum. Einerseits mag die Hoffnung auf eine Reduzierung des Hüftumfanges, andererseits der Mangel an Interesse dazu geführt haben. Also werde ich das nun einfach einmal auf dem Flohmarkt anbieten. Wir müssen das Zeug ja nicht weit tragen. Dekorativ ist es auf jeden Fall…
Dekosammlungen
Nächstes Thema: die Schachteln und Kisten, die nach dem letzten oder sogar vorletzten Umzug im Keller und Regal ihren Platz gefunden haben. Die stehen tatsächlich seitdem meist ungeöffnet, teils noch in Zeitungspapier gewickelt, unnütz herum. Dekoartikel, Vasen, Plüschtiere, Sparschweine, Setzkastenfiguren und was sich sonst so an Nippes findet. Natürlich nur aus meinen Kästen, die Erinnerungsstücke der Schwiegerfamilie werden weiter aufbewahrt, sofern sie nicht schon vor der Eröffnung der Baustelle der „Entrümpelung“ anheimgefallen sind.
Sesshaft geworden
Da ich selbst schon etliche Male allen Krempel für Umzüge einpacken musste, habe ich zumindest keine ausufernde Auswahl. Nur wichtigere oder immer noch gefällige Gegenstände haben es bis hierhin überlebt. Meine Wanderungszeiten sind mittlerweile wohl vorbei, jedenfalls solange keine besonderen Umstände auf uns einschlagen.
Deshalb bin ich bei einigen Gegenständen neugierig, wie häufig diese heute noch zum Weiterverkauf angeboten werden. Die Suche ist heutzutage ganz einfach, wenn man über Laptop und Internetzugang verfügt. Kurzum, ich lande bei Ebay und Etsy. Das sind sozusagen die 24 Stunden / 7 Tage / Ganzjahres / Überall – Flohmärkte in digitaler Form. Und die haben anscheinend alles, wirklich alles im Angebot.
Schale mit Geschichte
Zuerst fische ich eine massive Glasschale mit blauer Mitte aus dem Karton. Sie „hat was“, immer noch. Und ich habe sogar ein wenig Geschichte dazu.
Opa aus dem Sudetenland
Nach dem Krieg ist mein Großvater häufig – so oft es halt ging – zu seinen tschechischen Freunden gefahren. Er stammte selbst aus dem Sudetenland, war dort (u.a.) ein beliebter Bäcker, kannte Hinz und Kunz. Zudem war er ein Sprachgenie. Er beherrschte mehrere Sprachen, darunter neben Deutsch auch fließend Tschechisch und Französisch. Das musste ziemlich nützlich gewesen sein, in schweren Zeiten. Dazu hatte er aber auch ein „großes“ Herz und wohl vielen seiner Freunde in Not sehr geholfen. Die waren ihm auch lange nach der Vertreibung ziemlich verbunden.
Zwangsumtausch und Kunsthandel
Für diese Reisen galt jeweils ein sogenannter „Zwangsumtausch“ in einer bestimmten Höhe pro Tag und Person. Diese Devisen mussten im Lande ausgegeben werden. Für die Verpflegung und Unterkunft ging anscheinend nur ein Bruchteil davon ab. Der Rest wurde dann in Landeserzeugnisse umgesetzt und als Geschenke in den Kofferraum verstaut. Die böhmische Glaskunst gehört zu den wichtigsten und wohl auch wertvollsten „Mitbringseln“ aus dieser Zeit. Und so bin ich mit kunstvoll mundgeblasenen und mit Ritzungen verzierten Gefäßen unterschiedlicher Art aufgewachsen.
Es hat mich allerdings nicht interessiert. Der Hang zum Luxus oder zu Gegenständen, die man um Gottes Willen nicht anlangen sollte, weil sie zerbrechlich und teuer sind, war nicht in mir angelegt. Oma-Kram. Nicht meine Welt.
Heimatschätze
Von einem dieser Besuche „in der Heimat“ – wovon redeten die älteren Erwachsenen da nur immer in diesem seltsamen Ton? – brachte Opa mehrere sehr schwere, rundliche, aber irgendwie modern aussehende Gegenstände mit. Vasen, Schalen, Aschenbecher, so in der Art. Manche der Vasen erreichten eine stattliche Höhe und waren so schwer, dass man sie als „Waffe“ zur Verteidigung gegen Angreifer hätte benutzen können. Sie hatten schnell einen entsprechenden Spitznamen.
Meine Mutter wiederum hatte das sichere Auge einer Hobby-Künstlerin und wählte im Laufe der Jahre entsprechend die eine oder andere aus Opas Angebot aus. Darunter auch die blaue Schale.
Unterwegs mit mir
Diese fand später den Weg in meine „Sammlung“. Sie gefiel mir am besten und machte sich auch ganz gut in meiner ersten eigenen Wohnzimmerschrankwand im Dekor „weiße Esche“. Sie reiste mit mir durch mehrere Stationen in NRW und Süddeutschland, bis sie dann hier in unserem Zuhause landete. Zuletzt sicher eingewickelt in Zeitungspapier. Der Wohnzimmerschrank blieb auf der Strecke. Unsere unzähligen Regale sind voll mit noch mehr Büchern. So blieb einfach kein Ausstellungsraum für derlei raumgreifende Kunstgegenstände.
Nicht für den Trödel
Doch die Wieder-Entdeckung macht mir große Freude! Und so habe ich dieser Schale ein Plätzchen freigeräumt auf dem kleinen selbst geschreinerten Tischchen. Bis auf Weiteres. Also kein Trödelobjekt. Zumindest vorerst.
Erinnerungswert oder mehr?
Ach so. Ich wollte ja noch zu meinen Internet-Recherchen berichten. Also, wie oben schon erwähnt, bin ich zum Beispiel auf Etsy gelandet. Und schon auf den ersten Seiten findet sich das Bild einer roten Glasschale mit ganz ähnlicher Form! Sozusagen die „kleine Schwester“, wie die in der Beschreibung angegebenen Maße und das Gewicht belegen. Das Objekt steht für 95 Euro zum Verkauf. Ganz ordentlich, oder? Das Angebot markiere ich mir mal. Denn eigentlich gefällt mir auch dieses. Wenn ich wüsste, wohin damit?
Über 25 Seiten „blättere“ ich weiter durch das Angebot an Glasschalen und weiteren Gegenständen, die sich unter „böhmische Glaskunst“ finden lassen. Dabei finde ich sogar zwei blaue Glasschalen, die meiner sehr ähneln. Eine größere und eine kleine. 155 und 89 Euro. Geht das hier nach Gewicht?
Sachdienliche Hinweise
Die Anbieter sind wohl „Profis“. Jedenfalls findet sich in der Kurzbeschreibung jeweils der Hinweis auf den Designer, das Herstellungsjahrzehnt und die Manufaktur. Interessant! Bedeutet das jetzt meinen Einstieg in das Glaskunst-Wissen?
Das Folgende habe ich aus den Beschreibungen: Die Glashütte Chribska wurde Anfang des 15. Jahrhunderts gegründet. In den 1950er Jahren war der Chefdesigner Josef Hospodka, der sich auf skulpturales Blasglasdesign spezialisierte. Meine blaue Schale ist demnach ein typisches Chřibská Glas aus der Kollektion „Flower“, entworfen von Josef Hospodka (1923 – 1989), hergestellt in der Tschechoslowakei, Manufaktur Chřibská, Borské sklo, Novì Bor.
Hier finden sich viele Beispiele und Hinweise zu mehr Literatur.
Chřibská Glass Identification Guide | Glass Encyclopaedia (20thcenturyglass.com)
Fesselnd
Mehrere Stunden habe ich jetzt auf den Spuren meiner Glasschale verbracht.
Die Glaskunst fesselt mich ein weiteres Mal. Ich war ja schon immer beeindruckt von bunten Glasfenstern und Rosetten.
Das Thema Glas und Kunst landet jetzt auf die Liste meiner 1001-Interessen.
Scanner-Glück.
Übrigens, das mit dem Wetter hat geklappt!
Kommentar
MoniSophie
Dankeschön aus tiefstem Herzen für diesen nachdenklichen und einfühlsamen Kommentar.
Das ist das, was ich mir von den Blogbeiträgen erträume. Diese Resonanz, das Weiterschwingen, das Anklicken von Gedanken und Gefühlen. Das arbeitet jetzt tief in mir drinnen weiter.
Jedes Mal wieder ist alles letztendlich meine Entscheidung. Mal ganz leicht, wie nebenbei, einfach durch Abhaken oder “Vergessen”, manchmal mit Schmerzen, Verzweiflung und Tränen. Manchmal ist es wirklich hart, zu verstehen, dass nur ich jeweils dem, was ich erlebe, was mir passiert, was ich sehe, habe, empfinde, meinen persönlichen Wert zuweise. Und deshalb nur mit mir selbst – was reichlich schwierig sein kann – ausmache, ob ich daran etwas ändere oder ob ich es bewusst behalte. Denn alle Schritte (und nicht nur meine!) waren nötig, um genau an dieser Stelle heute, hier und jetzt anzukommen.
Die “äußere” Veranstaltung Hofflohmarkt selbst war als “öffentliches Ereignis” ein voller Erfolg (Umsatz Nebensache…). Weil wir mit so vielen Menschen ganz locker ins Gespräch und in die Begegnung gekommen sind. Diese freundliche Aufeinandertreffen ohne Thema oder Erwartungen bei strahlendem Sonnenschein hat soooo gut getan!
Ulrike Mätzschker
Schön, dass es dann doch noch mit dem Wetter geklappt hat. In den letzten Jahren ist jeder “Event-Termin” ein echte Herausforderung….sei es vom Wetter oder von pandemiebedingten Einschränkungen.
Wenn es dann doch geklappt hat, kann man nur hoffen, dass es für alle den Erfolg gebracht hat, den man sich “erträumt” hat.
Solch ein Event ist aber wirklich auch eine Herausforderung, denn man wird zurückgeführt in die Vergangenheit. Beim Stöbern findet man einfach Dinge, die man mit positiven, aber leider auch negativen Erinnerungen in Verbindung bringt. Ist man dazu bereit, sich von diesen Dingen und damit auch den Erinnerungen zu lösen und diese einfach zu akzeptieren und in ihrer Bedeutung loszulassen?! Oder ist es sogar ein Muss, daran festzuhalten, damit Sie einen nochmals bestätigen können. Jeder wird hier anders entscheiden.
Glücklich, wer das kann und sich somit weiter entwickelt.